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Vu‘ cumprà – Die Bewohner der transurbanen Archipele / Peter Volgger

12.12.2011

Die Arbeit widmet sich dem Thema „Stadt und Migration“, indem es ethnische Gruppen als „strategische Forschungsobjekte“ verwendet und deren Raumstrategien erkundet. Damit werden neue Erkenntnisse im Bereich der Grundlagenforschung zu Migration und Stadt und innovative Methoden der Stadtforschung im Spannungsfeld globaler Prozesse und lokaler Effekte gewonnen. Die Dissertation untersucht den Einfluss globaler Prozesse auf die „Stadt“ als physischen Ort und sucht nach einer Antwort auf die Frage, ob sich dieser Einfluss noch in einer physischen Form darstellen lasse. Der globale Einfluss auf die Stadt wird auf der Basis konkreter ethnischer Gruppen und in einem reduzierten Setting analysiert. Im Brennpunkt der Untersuchung stehen die Modalitäten der Raumproduktion informeller Räume und ihre Bedeutung für neue Modelle des Zusammenlebens und des Austauschs jenseits normativer Räume und des gängigen Vokabulars dafür. Die Improvisationen von Migranten schaffen Öffnungen für neue urbane Situationen und kreative Verbindungslinien zwischen dem Globalen und dem Lokalen und öffnen damit eine neue Perspektive auf die lokalen Effekte weltumspannender Prozesse. Darin liegt das innovative Potential der Arbeit. Wie kann man Prozesse beschreiben, die den uns bekannten Maßstab von „Stadt“ verlassen und nicht mit Metrik (Größe und Distanz) zu tun haben? Wie kann man das „Inkommensurable kommensurabel“ machen? Wie kann Territorialisierungsprozessen eine Form gegeben werden, die zwischen den normativen und den informellen Räumen oszillieren?
Aus einer ursprünglichen Not macht die Arbeit eine Tugend. Ihre Originalität liegt in einer Theoriestrategie der Entgrenzung von „Stadt“. Es geht davon aus, dass die entstehenden Phänomene an einem konkreten Ort sichtbar gemacht werden können. Eine zentrale Annahme des Projekts ist, dass dabei authentische ethnische „Fragmente“ entstehen – selbstreferenzielle Lebenswelten – die nicht einfach über den Integrationsimperativ oder andere zentral autorisierte Kategorien und den damit verbundenen normativen Raum zu erklären sind. Menschen, die sich im Migrationsraum bewegen, verhalten sich anders als solche, die einem bestimmten Territorium (BECK: „Containerraum“) zugeordnet werden können. So entstehen auf italienischem Territorium als Resultat migratorischer Praxen selbstautorisierte Strukturen, die zu einer Neuverteilung von Aktivitäten und Rollen jenseits der konzeptuellen Rahmenwerke führen, die uns vertraut sind. Mit der Analyse dieser Phänomene gibt die Arbeit den Stadtplanern ein Instrument in die Hand, um den neuen Bottom-up-Realitäten der Stadt zu begegnen. Wie können transurbane Phänomene in die Planung mit einbezogen werden? Sie analysiert den Raum der Migration, indem es eine „urbanen Topologie“ entwirft. Neu daran ist, dass es nicht um einen mathematischen Begriff von Topologie geht, sondern die Raumbegriffe aus den Migrationsräumen heraus entwickelt werden (Latour: Follow the actors!). Durch ein kalkuliertes Schnittverfahren („topologische Schnitte“) können die homotopen „Invarianten“ aus den Transformationsabbildungen der Migrationsräume herausgefiltert werden. Bei solchen Invarianten handelt es sich um „Bausteine“ von Netzwerken, die elastisch („resilient“) genug sind, um die dynamischen Transformationen zu überstehen. „Homotope funktorielle Invarianten“ (HUBER) sind verantwortlich dafür, dass die Formation von Identität und die Stabilisierung von Strukturen im Transmigration möglich ist. Die topologischen Schnitte (Poincaré-Schnitte) zeigen die Brüche und Übergänge bei großmaßstäblichen Phänomenen auf. Sie setzten intensive Berührungspunkte oder „Kontaminationen“ im urbanen Feld frei, „kritische Punkte“, die in der von der Planung angestrebten Kontrolle nicht berücksichtig werden. So prallt das, was Stadt-Planung heute macht, auf die Bottom-up-Realität vernetzter Selbstorganisation. Die topologischen Kategorien von „Konvergenz“, „Überlagerung“, „Transversalität“ und „Stratifikation“ dienen der Raum-Analyse. Gelingt die topologische Rekonstruktion der transnationalen Zusammenhänge, so kann die Arbeit einen wesentlichen Beitrag leisten für die Lösung von Steuerungs- und Stabilisierungsfragen polyzentrischer Strukturen im transurbanen Kontext und damit für die Stadtforschung überhaupt.
Die globale Dynamik der Fragmentierung von Lebensräumen wird mit der Theoriefigur des „Archipels“ erfasst. Im Begriff des „Archipels“ bündelt sich die kontextuelle Komplexität des Themas, geht es doch darum, die fragmentierten Lebenswelten von Menschen über Grenzen und Länder hinweg in den Zusammenhang sozialer Kohäsion zu setzen. Die Herausforderung des Projektes liegt nämlich darin, Zusammenhänge zu zeigen, wo man Zusammenhangslosigkeit vermutet. „Archipele“ bezeichnen ein dynamisches Verfahren, eine heterogene und hybride Ansammlung von Elementen des Herkunfts- sowie des Ankunftslandes im sogenannten „Transmigrationsraum“, eine urbane und zugleich trans-urbane „Assemblage“, die plötzlich auftaucht, als „Bündel von Menschen und Dingen“ temporär verankert wird und wieder verschwindet. Wie kann man solche Gebilde beschreiben? Wie geht man mit der dabei entstehenden „Unschärferelation“ um, handelt es sich doch um Akteure, die in „zirkulierenden Territorien“ sich bewegen, bald hier, bald dort sich aufhalten?
Forschen ist ein „Raub an der Unsichtbarkeit“ (SLOTERDIJK). „Archipele“ sind keine Fixpunkte, die a-priori vorausgesetzt werden können, sondern Schritt für Schritt konzeptualisiert werden müssen. Die Manöver der Transmigranten führen zu einem „nautischen Experiment“ auf unsicherem Boden. Doch gerade in diesem Denken der Voraussetzungslosigkeit spiegelt sich unsere Zeit! Aussagen über die Räume der Migranten werden zu Aussagen über „Stadt“ unter der Voraussetzung ihrer Randlosigkeit.
Die Arbeit besteht aus zwei Teilen. Die erste Analyse beschäftigt sich mit den Senegalesen in Bozen, dh. mit dem Phänomen der Migration in einem urbanen Kontext. Die zentrale Hypothese ist, dass die Senegalesen dort ein „afrikanisches Dorf“ errichten und bewohnen. Damit wird Bozen zum Teil eines trans-urbanen Zusammenhangs, der bis in den Senegal reicht. „Stadt“ ist ein Prozess, der einen bestimmten Raum benötigt, um ablaufen zu können. Ziel ist die topologische (Re-)konstruktion dieses „Dorfes“ und der Nachweis, dass es einen solchen lokalen Effekt auch bei uns gibt. Damit wird gezeigt, wie die Migranten zu „lokalen Dorfbewohnern in den globalen Metropolen dieser Welt“ (SASSEN) werden. Anhand des Beispiels von Bozen wird weiters gezeigt, dass die migratorischen Layer („flying scaffolds“) autonom sind, dh. nicht mit dem „Kerbungsimperativ“ der Integration zu begreifen sind, sondern zu einem Parallelsystem führen. Auf diese Weise entsteht auch eine politische Aussage zum Thema. Die zweite Analyse geht auf die Existenz von „vertikalen Städten“ in Italien ein. Es handelt sich dabei erneut um eine autonome Struktur, eine „absolute Architektur“ (AURELI), die ihre ursprüngliche Funktion verloren hat und von Migranten eigenmächtig genutzt wird. Ein Beispiel dafür ist das „Hotel House“ in Porto Recanati. Die Gebäude präsentiert sich in Italien als
„Faltungen“ des Urbanen in eine Architektur. Auch hier handelt es sich um autoreferentielle Systeme, die unabhängig vom Kontext des Bestandes bestehen können (zB. ökonomisch als „Enklavenwirtschaft“). Solche Phänomene verweisen auf die paradoxe Verfasstheit des Migrationsraums, sind dynamisch, heterogen und transformatorisch. Konstruiert man den Migrationsraum als ein topologisches Feld, so entstehen „Monaden“, die das Ganze der globalen De-, und Reterritorialisierungsprozesse auf kleinstem Raum enthalten. Jede dieser Strukturen enthält das Potential, das Verhältnis von Stadt und Migration im transurbanen Kontext zu visualisieren. Schließlich zeigen die Analysen, wie selbstautorisierte Strukturen unterschiedlichen Maßstabs (migratorische Praxen oder alternative Ökonomien) eine eigene Form von Soziabilität außerhalb der konzeptuellen Rahmenwerke offizieller Politik und Planung hervorbringen. Die Seite der Planung wird dadurch konstituiert, dass sie mit dem Problem umgehen muss, das die andere Seite (das Andere) für sie verkörpert. Es gibt heute noch keine operationale Grundlage, auf der ein Austausch zwischen den beiden Systemen stattfinden könnte, die dadurch entstehen, dass mit zunehmender Kraft sich die Kreisläufe der Dritten Welt mit unseren überschneiden.

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